Die Luft riecht nach Salzwasser, das Meer reflektiert den fahlen Schein des Vollmonds und der zahllosen Sterne am Himmel. Es weht nur ein warmes, laues Lüftchen, die Segel flattern deswegen ab und zu auf, der Mast knarrt dann ein bisschen. Links sind noch die Lichter der marokkanischen Küstenstädte zu sehen, bald werden auch sie verschwinden und nur noch die Wellen zu sehen sein. Die „Mystique“, eine knapp 20 Meter lange Segelyacht, bahnt sich gemächlich ihren Weg das Wasser. Gestern hat sie den Hafen von Gibraltar verlassen und Kurs Südwest genommen, Richtung Kanarische Inseln.
Ich schiebe Nachtwache auf der „Mystique“. Es gibt nicht viel zu tun für mich, nur die Windrichtung und die Fischerboote, deren Positionslichter vor einigen Minuten am Horizont aufgetaucht sind, sollte ich im Auge behalten. Zeit also, ein wenig in mich zu kehren und an die Tage zu denken, an denen alles los ging: Vor einem guten Jahr stieß ich auf einer Reise per Anhalter durch Europa eher zufällig auf ein Segelboot, das Crew brauchte.
Ich heuerte an und seitdem lässt mich die Idee, den Atlantik per Anhalter zu überqueren, nicht mehr los. Ich machte im letzten Jahr einen Bootsführerschein und sammlte Erfahrungen auf verschiedenen Booten in der dänischen Südsee, habe mich also diesmal ein wenig vorbereitet. Jetzt bin ich plötzlich mitten drin, im Abenteuer meines Lebens und kann mein Glück kaum fassen.
Der Kapitän der „Mystique“ heißt Randy, ist 52 Jahre alt und kommt aus Durango, Colorado, Vereinigte Staaten. Im Frühling kam er mit seinem Boot des Typs „MacGregor 65“ über den Atlantik nach Europa gesegelt, jetzt ist er auf dem Weg zurück. Im „wahren Leben“ ist er Bauunternehmer. Doch die Wirtschaftskrise ließ auch die Aufträge für sein Unternehmen einbrechen, so dass er die Gelegenheit nutzte und das Geschäft und die Gewinne daraus für ein Jahr seinem Partner überließ, um seinen Traum von der Überquerung des Atlantischen Ozeans wahr werden zu lassen.
Eigentlich ist er völlig allein unterwegs: „So lernt man sich selbst erst richtig kennen“, sagt der blond gelockte und braun gebrannte Amerikaner. Doch im verkehrsreichen Gebiet um die Straße von Gibraltar will Randy auf Nummer sicher gehen und jemanden an Bord haben, der ihn bei den Wachschichten unterstützt. Das ist meine Chance.
Immer wieder frage ich mich, wie die Chancen dann auf Gran Canaria stehen, ein neues Boot zu finden, das mich dann nach Amerika bringt. Es wäre schon schade, wenn mein Abenteuer dort endet. Andererseits erwarten mich auf Gran Canaria traumhafte Strände, Sonneschein und Temperaturen jenseits der 20-Grad-Grenze – davon träumt man als Ostfriese doch eigentlich das ganze Jahr. Ich freue mich besonders auf die tollen Surfbedingungen – der Wind ist genau so beständig wie auf dem Großen Meer, wo ich sonst gerne auf Brettern unterwegs bin.
Auf Gran Canaria gibt es zudem Wellen meine ersten Sprünge und, vor allem: Bei dem Wetter ist kein dicker Neoprenanzug nötig, Badehose und T-Shirt werden völlig ausreichen. Außerdem ist Las Palmas, die Hauptstadt der Kanarischen Inseln eine pulsierende Stadt mit etwa 400.000 Einwohnern, die Touristen, die hier ganzjährig entspannen und genießen, nicht mit eingerechnet. Auch das Nachtleben soll hier einiges zu bieten haben – es gäbe also ganz bestimmt deutlich schlechtere Plätze zum Überwintern.
Am dritten Tag auf See frischt der Wind kräftig auf, die „Mystique“ legt sich schräg auf das Wasser, kämpft mit bis zu vier Metern hohen Wellenbergen, die von hinten heranrollen und das Boot mühelos wie eine Nußschale anheben und wieder fallen lassen. Sogar Randy hat Probleme, mit dem Seegang klar zu kommen, ich hänge mich einmal über die Reling.
Auch die Weite, die ich doch eigentlich genießen Wollte, wirkt gerade eher bedrängend, ich mache mir keine guten Gedanken. Zum Glück werden die schnell weggeschoben von einem Dutzend Delfine, die um die „Mystique“ herum springen und auf der Bugwelle „surfen“. Was für ein Schauspiel!
Die Meeressäuger kommen immer im richigen Moment vorbei und unterhalten die Menschen auf See. Und Unterhaltung ist rar an Bord eines so kleinen Bootes, der Alltag während eines großen Törns ist eigentlich ziemlich eintönig: Alle zwei bis drei Stunden kommt ein anderes Schiff in Sichtweite, viel mehr passiert nicht.
Ich genieße das sehr: Endlich mal Zeit zum Lesen, Musik hören und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Wann kommt man da mal zu? Allerdings werden Dinge, die an Land eigentlich nur lästig sind, Kartoffeln schälen oder Geschirr abwaschen zum Beispiel, an Bord auf einer so langen Seereise plötzlich zu willkommenen Abwechslungen.
Drei weitere Tage auf dem weiten Atlantik liegen noch vor der „Mystique“, bis sie Lanzarote, die nördlichste der kanarischen Inseln erreichen wird. Kapitän Randy wird auf den Kanarischen Inseln ein letztes Mal vor dem Ablegen Richtung Amerika Hand anlegen an seine Yacht, Kleinigkeiten ausbessern und seinen Proviant für die dreiwöchige Passage im Bauch der „Mystique“ verstauen.
Ich dagegen werde von Bord gehen und mich in den Hafenkneipen und auf zahllosen Internetseiten umschauen, nach einem neuen Boot, das mich auf die andere Seite des Ozeans bringt. Außerdem werden Randy und ich wandern gehen und uns von der viefäligen Landschaft Gran Canarias überraschen lassen: Neben den goldgelben Stränden mit dem tiefblauen Meer bietet der Nordwesten der Insel mit Pinien bewaldete, bergige Nationalparks mit Bächen, Flüssen, Stauseen und kleinen Wasserfällen – wer erwartet das schon in einem Mekka des Wassersports? Es gibt also auch tolle Möglichkeiten, in den Schatten zu fliehen, wenn die Sonne zu sehr vom Himmel knallt.
In einigen Wochen werde ich hoffentlich 3000 Seemeilen mehr auf dem Buckel haben und dabei über 20 Längengrade auf dem wohl wildesten Ozean der Erde überquert haben. Und vielleicht werde ich wieder im Mondschein an Bord einer Segelyacht sitzen und Wache schieben. Hoffentlich tauchen auch dann wieder Lichter am Horizont auf: Es werden dann keine marokkanischen Fischerdörfer mehr sein, die ich erkenne, sondern Jamaikanische oder Brasilianische. Und die Fischer auf ihren kleinen Booten werden aus der Karibik kommen oder aus Südamrika. In diesem Moment werde ich wissen, dass mein Traum wahr geworden ist.